Montag, 9. November 2015
637 - Die Zahl zwölf
Als ich heute beim Bad putzen das Radio laufen hatte, kam ein Aufruf Kindergeschichten zu erzählen. Und zwar von Dingen, die man früher falsch verstanden hat. Oder wovon man als Kind überzeugt war oder so ähnlich. Auf jedenfall ist mir da meine Geschichte mit der Zahl zwölf eingefallen, eine Sache, die ich lange nicht verstehen konnte.

Da ich als Kindergartenkind immer geweint habe wenn meine Mutter auch nur ein paar Schritte von mir weg war, hatten meine Eltern beschlossen mich in die Vorschule zu geben. Ich habe Ende Juni Geburtstag, war also ein Muss-Kind, aber ein ganz junges, so dass alle meinen Eltern erklärten, dass mir die Vorklasse bestimmt gut tun würde. Außerdem war ich als Kind sehr zierlich und schaffte weder mit knapp sechs noch ein Jahr später die 20 Kilo Körpergewicht auf die Waage zu bringen. Meine Eltern waren zuerst von der Vorschule nicht so überzeugt, da ich schon mit fünf angefangen hatte zu lesen, schreiben und rechnen.

Den Schulweg zur Vorschule ging ich jeden Tag mit einem Mädchen, dass einige Straßen entfernt wohnte. Das klappte ganz gut und ich hörte irgendwann auch auf zu heulen. An einem Tag waren ganz viele Schnecken auf dem Weg und wir fingen an sie aufzusammeln und genauer zu betrachten, denn alle hatten unterschiedliche Häuser. Dabei vergaßen wir die Zeit, so dass die Lehrerin der Vorschulklasse unsere Eltern alarmierte und meine Mutter sich auf die Suche begab.

Als wir dann mit Verspätung in der Vorschulklasse ankamen, schimpfte die Lehrerin mit uns. Aus Erwachsenensicht heute würde ich sagen, sie wollte uns klar machen, dass sich alle Sorgen um uns gemacht hatten. Das versteht man als Kind aber nicht immer. Das Schlimmste aber wäre, so die Lehrerin, dass wir an diesem Tag einen Teil des Unterrichts verpasst hätten. An diesem Tag war die Zahl zwölf dran (wir lernten wohl die Zahlen von eins bis zwölf) und sie erklärte uns, dass wir nun erstmal nicht wissen würden, was es damit auf sich hätte. Da für mich zu diesem Zeitpunkt weder Zahlen noch Buchstaben ein Geheimnis waren und ich mich in der Vorschule sowieso zu Tode langweilte, verstand ich überhaupt nicht, was sie uns mit ihrem Geschimpfe sagen wollte. Ich verstand nicht, was so schlimm daran war, verpasst zu haben, wie sie die Zahl zwölf vorzeigt und die ganzen Kinder versuchen sie krakelig in ihr Heft zu malen. Mir war diese Zahl bekannt, so wie viele andere auch. Eine Zeit lang fragte ich mich, ob die Lehrerin vielleicht nicht so intelligent war und nicht so viele Zahlen kennt und es für sie deswegen so wichtig war. Erst viel später habe ich verstanden, dass die anderen Kinder alle nicht so weit waren wie ich und es für sie eine ganz besondere Leistung war den Stift überhaupt so zu halten, dass sie irgendwas erkennbar zu Papier bringen konnten.

Zum Glück haben meine Eltern den Fehler mit der Vorschule bei meiner Schwester nicht gemacht, obwohl es ihnen auch dort empfohlen wurde. Meine Schwester ist ein Kann-Kind, hätte also noch gut ein Jahr im Kindergarten bleiben können oder eben in die Vorklasse gehen können. Der Kindergarten weigerte sich sie zu behalten, sie würde die anderen Kinder "tyranisieren". Jetzt nicht mit Schlägen oder bösen Worten, sondern mit ihren Vorstellungen. Da meine Schwester recht früh von mir lesen gelernt hatte, wollte sie allen anderen Kindern vorlesen und die hatten dann gefälligst ruhig zu sein und zuzuhören. Das war ein Grund mehr für meine Eltern meine Schwester direkt einzuschulen, gegen alle Ratschläge. Und aus heutiger Sicht mit das Beste, was sie machen konnten.